Früh erkennen - früh fördern!
Wir Kinderärzte führen neben Früherkennungsuntersuchungen auch spezifischere Entwicklungsdiagnostik durch. Wir sind oft erste Ansprechpartner, wenn die Eltern sich Sorgen über die Entwicklung ihrer Kinder machen. Die Auswirkungen kindlicher Entwicklungsauffälligkeiten können sehr gravierend sein. Je früher eine Störung erkannt wird, desto besser die Fördermöglichkeiten.
In der KIGGS-Studie [1], in die mehr als 12.000 Kinder und Jugendliche eingeschlossen sind, fanden sich bei ca. 20 % der Teilnehmer psychische Störungen, bei 5 % ein ADHS. In deutschen Kohortenstudien konnten ca. 8 % sprachauffällige Kinder [2] konstatiert werden. Sprachauffällige Kinder sind häufig schwierig im Verhalten, viele weisen zusätzlich psychiatrische Diagnosen auf, die sich nicht nur als sekundäre Folge der Sprachentwicklungsstörung, sondern auch als Zusatzsymptom einer Erkrankung zeigen.
Folgen fehlender Sprachbeherrschung
Das Beherrschen der Sprache ist Voraussetzung für die Teilhabe am sozialen Leben, für das Erlernen von Lesen und Schreiben, für Kommunikation und für die Entwicklung eines mathematischen Verständnisses. Ferner ist die Ausbildung einer Lese-Rechtschreibstörung bei bestehender schwerer Sprachentwicklungsstörung umso wahrscheinlicher, je später das Kind einer adäquaten Therapie zugeführt wird. Je größer die entstandenen Entwicklungsdefizite geworden sind, desto mehr Aufwand muss betrieben werden, um diese teilweise wieder aufzuholen. Sekundäre psychiatrische Erkrankungen wie Konzentrationsstörungen, Depressionen, Schulangst, Schulverweigerung, psychosomatische Störungen, oppositionelles Verhalten etc. können die Folge sein.
Untersuchungen zeigten, dass bereits Säuglinge kleine Mengen erfassen und unterscheiden können, lange bevor sie sprechen lernen [3]. Kinder, die keine Mengenvorstellung haben, die sich Zahlen nicht merken können, die keine Vorstellung vom Zahlenraum entwickeln, die Zahlen nicht Worten zuordnen können, leiden an einer Dyskalkulie – einer Rechenstörung, die sich nicht nur im Mathematikunterricht negativ äußert, sondern ebenso im täglichen Leben beim Umgang mit Geld, Abmessen usw. Wird diese Störungen frühzeitig erkannt, so kann einer Fixierung mit langfristiger Therapie sowie der Entwicklung von Folgeerkrankungen positiv begegnet werden.
Normvariante oder Störung?
Sprachauffällige Kinder sind häufig nicht nur in der Sprache auffällig, sondern auch in anderen Bereichen, wie v. a. der Motorik und dem Verhalten. Das bedeutet, dass bei sprachauffälligen Befunden nicht nur die Sprache beurteilt werden darf.
Es gibt viele Entwicklungsauffälligkeiten, die nur eine Normvariante darstellen und keiner Therapie, manchmal nicht mal einer Förderung bedürfen (z. B. Laufbeginn). Die Eltern müssen jedoch über die Harmlosigkeit der Befunde aufgeklärt werden. Am häufigsten finden sich sicherlich gut therapierbare Entwicklungsstörungen wie Artikulationsstörungen mit kurz- bis mittelfristigem Therapiebedarf. Es existieren aber auch die schwerwiegenden Störungen, die nicht übersehen werden sollten, um den Kindern eine positive soziale Entwicklung zu ermöglichen. Verschiedene Entwicklungsauffälligkeiten müssen sicherlich unterschiedlich gewichtet werden.
Was gehört zur Entwicklungsdiagnostik?
Kinderärzte führen Kinderfrüherkennungsuntersuchungen durch bzw. werden aufgesucht, wenn die Eltern sich Sorgen über die Entwicklung ihrer Kinder machen. Neben Kenntnissen der kindlichen Entwicklung gehören zur Entwicklungsbeurteilung eine ausführliche Anamnese einschließlich Beurteilung der alterstypischen Fertigkeiten, ein vollständiger körperlicher Status, die Bestimmung der Körpermaße, die Überprüfung von Hör- und Sehsinn und des Zahlen- und Mengenverständnisses, ein standardisierter Sprachtest, Überprüfung der auditiven Merkfähigkeit und der Motorik. Bei Hinweisen auf eine Entwicklungsstörung wird gegebenenfalls weitere Diagnostik bei einemKinder- und Jungendpsychiater oder an einem SPZ erfolgen.
Fälle aus der Praxis
Beispielhaft für Entwicklungsstörungen werden hier zwei Fälle aus einer kinderärztlichen Praxis vorgestellt.
Fallvorstellung 1
Chiara, 7 Jahre alt, hat seit Wochen jeden Tag Bauchschmerzen. Wenn sie zu Hause bleiben könne oder aus der Schule abgeholt werde, gehe es ihr bald wieder besser und sie lache wieder und sei unbeschwert. Eigentlich gehe sie gerne zur Schule, aber seit ca. vier Monaten werden die Bauchschmerzattacken immer häufiger. In den letzten Wochen könne sie abends, v. a. am Sonntag, nicht mehr so gut einschlafen und habe Angst. Chiaras Entwicklung ist seit der Säuglingszeit nie auffällig gewesen. Die körperlichen und laborchemischen Untersuchungsergebnisse sind unauffällig. In einem Vieraugengespräch erzählt Chiara, dass sie nicht mehr zur Schule gehen möchte, weil alles anders sei als sie dachte. Wenn sie Matheunterricht habe, würde sie gar nicht verstehen, worüber geredet würde.
Chiara hatte als Folge eines Versagens im Fach Mathematik eine psychosomatische Störung entwickelt. Sie wurde unter dem Verdacht auf Vorliegen einer Dyskalkulie einem Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie zur weiteren Testung vorgestellt. Der Verdacht bestätigte sich. Nach Wechsel der Schule in eine Grundschule mit weniger Kindern pro Klasse und anderem Unterrichtskonzept sowie einer von den Eltern privat finanzierten Lerntherapie verschwanden die Bauchschmerzen. Chiara entwickelte sich auch schulisch gut, auch wenn Mathematik nicht ihr bestes und liebstes Fach war. Heute macht sie eine Ausbildung zur Sozialassistentin nach erfolgreichem Realschulabschluss.
Fallvorstellung 2
Die Entwicklung von Alexander, 3,5 Jahre, verlief bis zur U6 normal. Bei der U7 fiel auf, dass er nicht sprach, sondern nur Laute von sich gab. Die Mutter hatte den Eindruck, dass er nicht alles verstehen würde. Alexander sollte dem Pädaudiologen zum Ausschluss einer Hörstörung und der Kinderärztin in drei Monaten nochmals vorgestellt werden. Beides erfolgte nicht.
Ca. ein Jahr später, im Rahmen der U7a, erledigte Alexander den Steckkasten (drei Formen zuordnen) sehr schwerfällig, konnte Perlen nicht auffädeln und war sehr ungeduldig. Den Sehtest verstand er nicht, da er die zu benennenden Wörter nicht kannte. Er hörte weder der Mutter, den MFA noch der Ärztin zu. Stattdessen schmiss er sich auf den Boden, trampelte und schrie hysterisch. Die Mutter berichtete, dass sie am Ende sei. Alexander verhalte sich den ganzen Tag störrisch und bockig und auch im Kindergarten sei er auffällig. Keiner möchte mit ihm spielen.
Alexander ist in mehreren Bereichen auffällig: Er spricht, kommuniziert und verhält sich nicht altersgerecht. Zusätzlich zeigt er ein oppositionell-verweigerndes Verhalten. Hier muss eine mehrdimensionale Diagnostik und Unterstützung mit regelmäßigen Entwicklungskontrollen erfolgen und die Mutter in ihrem Tun unterstützt werden.
Alexander wurde nach einem langen und eindringlichen Gespräch mit der Mutter einer intensiven Logopädie zugeführt. Der Mutter wurde geraten, pädagogische Beratung und Unterstützung zu suchen (z. B. Familienberatungsstelle, Unterstützung in der Familie etc.). Zusätzlich erfolgte die pädaudiologische Vorstellung und die Mitanbindung an ein Sozialpädiatrisches Zentrum. Nach ca. vier Monaten Logopädie zeigt sich bei dem Patienten schon eine Veränderung: Alexander ist weniger wütend, er spricht von sich aus mehr, imitiert Äußerungen, ist ausgeglichener. Im Kindergarten spielt er mit anderen Kindern. Zurzeit erfolgt eine mehrdimensionale Diagnostik im SPZ, um zu entscheiden, ob Alexander zukünftig den heilpädagogischen oder den Sprachheilkindergarten besuchen wird, um ihn entsprechend seiner Defizite intensiver zu fördern.